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Michel Würthle

WER IST MICHEL WÜRTHLE?
Otto Kiepenheuer

Vergessen wir für einen Augenblick Michel Würthle.

Sollten Sie sich wundern und ungeduldig die Frage nach der Bedeutung dieses Gedankenspiels stellen, so seien Sie getröstet: Es ist eine berechtigte Frage. Und dennoch: Vergessen wir Michel Würthle.

Wenn Sie wollen, können Sie sich ein Bild vorstellen, das an die Wand eines Raumes hängt. Das Bild ist nicht sehr groß. Es ist ein Original. Es ist nicht signiert. Es ist nicht datiert.

Es trägt keinen Titel.

Sie sehen vielleicht ein Stillleben. Vielleicht sehen Sie auch ein Porträt.

Oder ein Landschaftsbild. Vielleicht sehen Sie gar nichts.

Das Bild ist von Richard. Richard ist ein Maler, den man sich als eine Mischung aus Raskolnikow und Dänischem Hochadel vorstellen kann. Ein sensibler, nachdenklicher, künstlerisch hochbegabter junger Mann mit einer enormen Begabung für das Geschäftliche.

Richard kennt nur ein Gesetz: Es ist ein sehr undurchsichtiges Gesetz. Es ist nicht in Paragraphen unterteilt und in dicken Gesetzbüchern nachzulesen. Es ist ein Gefühl, ein Instinkt. Richards Gesetz ist das Gesetz der Gerechtigkeit.

Richard hat einen Freund, den er bewundert. Dieser Freund ist ein Philosoph. Er ist auch ein Bildhauer. Und er ist ein Gastronom. Und er ist ein Schriftsteller. Und er ist ein Entertainer.

Richard hat seinen Freund auf ein Podest gestellt. Es ist ein sehr hohes Podest. Es ist so hoch, daß man es nur schwer erkennen kann. Es ist von dicken Nebelschwaden umhüllt. Und auf diesem Podest sitzt Michel Würthle.

Richard und Michel sind keine Geschäftspartner. Sie sind keine Blutsbrüder. Sie sind nicht durch Rituale oder Verträge aneinander gebunden. Sie sind einfach Freunde.

Eines Tages hat Richard für einen Mann ein Bild gemalt. Richard hat das Bild seinem Freund Michel gezeigt. Michel hat das Bild mitgenommen. Richard hat das Bild nie wieder gesehen. Der Mann auch nicht. Nur Michel weiß, wo das Bild geblieben ist.

Richard hat nie gefragt, was aus dem Bild geworden ist. Er hat Michel nie darum gebeten, das Bild zurückzugeben. Michel hat nie darüber gesprochen.

Ein anderes Mal hat Richard für einen anderen Mann ein Angebot gemacht. Es war ein sehr großzügiges Angebot. Der Mann hat es ausgeschlagen. Michel hat es angenommen.

Damals, im Jahre 1981, ist Anbruch eines Freitagabends. Richard hat mit Michel einen Film gemacht. Michel hat die Hauptrolle gespielt. Der Film war nicht sehr gut.

Michel hat das Drehbuch geschrieben. Es war kein richtiges Drehbuch. Es war ein Zettel mit fünf Worten. Die Worte waren: Michel, Amour, Wien, und Paris.

Michel hat einen weißen Smoking getragen. Richard hat Michel bewundert. Der Film ist nie gezeigt worden. Vielleicht ist er auch nie entwickelt worden.

Richard ist ein sehr guter Koch. Er kocht wie ein Künstler. Mit Hingabe. Mit Intelligenz. Mit Disziplin. Mit Liebe.

Michel ist auch ein sehr guter Koch. Er kocht wie ein Philosoph. Mit Schalk. Mit Charme. Mit Raffinesse. Mit einem Hang zur Provokation.

Beide haben ein Restaurant eröffnet. Es war ein schönes Restaurant. Es war ein teures Restaurant. Es war ein erfolgreiches Restaurant.

Das Restaurant war auch ein Salon. Ein Ort der Begegnung. Ein Ort der Erleuchtung.

Ein Ort der Versuchung. Ein Ort der Gefahren.

Es gab dort keine Eintrittskarten. Es gab dort keine Speisekarten. Es gab dort keine Regeln. Und es gab dort keine Uhr.

Jede Begegnung war ein Spiel. Jedes Gespräch war ein Abenteuer. Jede Rechnung war ein Gedicht. Jeder Gast war ein Komplize.

Michel Würthle war der Gastgeber. Richard war der Gastgeber. Beide waren nie gleichzeitig anwesend.

Michel Würthle war nicht überall beliebt. Er hat sich nicht angedient.

Er hat sich nicht erklärt. Er hat sich nicht gerechtfertigt.

Michel Würthle hat Widerspruch erregt. Auf eine elegante Art. Auf eine höfliche Art.

Auf eine gefährliche Art.

Michel Würthle hat Kunstwerke verkauft. Nicht immer. Nicht alle. Nicht billig. Nicht teuer. Nicht ehrlich. Nicht unehrlich.

Michel Würthle hat Kunstwerke gekauft. Nicht immer. Nicht alle. Nicht billig. Nicht teuer. Nicht ehrlich. Nicht unehrlich.

Michel Würthle hat ein Panoptikum erschaffen. Mit echten und falschen Bildern. Mit echten und falschen Menschen. Mit echten und falschen Geschichten.

Wenn Richard jemals das Panoptikum verlässt, kann Michel nur hoffen, daß er alle Glück hatten, das richtige zu übersehen.

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