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Klein Paris2

Lisa Röcke
KLEIN-PARIS IN BERLIN, 1961


»Paris Bar« eine Oase des »savoir vivre«

Ich war noch nicht lange in Berlin, als ich das Lokal zum ersten Mal mit einigem Zögern betrat.

Ein großer zweigeteilter Raum, verbunden durch das behäbige, nach beiden Seiten ausschwingende Buffet, dessen Rückfront verheißungsvoll mit ganzen Batterien von Weinflaschen bestückt ist. Vorn rechts — sofort als Charakteristikum ins Auge fallend — eine lange Polsterbank, darüber eine ebenso lange Spiegelfläche, davor einfache viereckige Tischchen mit je einem Stuhl. Dort sitzt man echt pariserisch vis-à-vis, sein Gegenüber und das eigene Spiegelbild beim Trinken und Speisen betrachtend. Im Hintergrund des Raumes zur Rechten ein Kamin, davor in aufgelockerter Form kleine mit Sesseln umstellte Tische. Im Raum zur Linken, der vom anderen durch die Andeutung einer gestreiften Markise getrennt ist, finden wir zwanglos durcheinander gestellt einfache niedrige Tische, Sessel, Hocker und Stühle. Im Blickfeld der Gäste liegt hier eine mit Pariser Motiven bemalte Wand, und von der Küche her hört man leise das Brutzeln von Pommes Frites und Steaks. Ich nehme, von einem freundlich-hilfsbereiten Ober geleitet, dicht neben dem Kamin Platz. Die Garderobe kommt auf eine lange Stange, wie man sie heute oft in Friseurläden antrifft.

 

So, und nun kann ich mich endlich in Ruhe ein wenig umschauen. Was ich sehe, hat nun freilich nichts mit einem Luxus-Unternehmen zu tun. Man denke eher an das fröhliche Improvisieren aus der Zeit vor der Währungsreform. Wandanstrich, Möbel, Beleuchtung sind nicht von edelster Ausführung und mit letzter Raffinesse aufeinander abgestimmt, sondern vielmehr umgeben von einem Hauch unbekümmerter Saloppheit. Die künstlich erhellten Fenster, die den Blick auf Versailles und Notre Dame freigeben — große Farbdrucke schaffen die Illusion — die Fotos prominenter Gäste an der Wand, ein paar alte Krüge auf dem Kamin, französische Chansons aus dem auf „leise“ gestellten Lautsprecher, alles zusammengenommen schafft eine Atmosphäre des laisser faire, eine gastliche Behaglichkeit ohne Schwere, bei der man sich „zu Hause“ und zugleich angenehm „incognito“ fühlt, wo einer den anderen in seiner Eigenart gelten lässt.

 

Und die Gäste der Paris Bar haben fast alle Profil, eigenartig und unverwechselbar: Studenten der benachbarten Kunstakademie und der Technischen Hochschule, Literaten und Wissenschaftler, Künstler vom Opernhaus, die mal eben „über die Straße“ gekommen sind, Damen mit Einkaufspäckchen neben sich, Piloten der Air France, Ausländer auf Berlin-Besuch. Manche kommen nur, um rasch ein „Steak minute“ zu essen, andere sitzen stundenlang ungestört bei einer Flasche Pinard, in ernsthafte Lektüre versunken. Da gibt es Tische mit jungen Leuten, die salopp und heiter ihre Zwiebelsuppe löffeln und die gut sitzenden Bonmots nur so hin und her flitzen lassen, daneben ein junges Pärchen in selbstvergessenem Glück, einen Schoppen Rotwein vor sich — stundenlang.

Und dann die fröhlichen Esser, die sachverständigen Genießer der guten französischen Küche. Unwillkürlich schaut man zu ihnen hin und versucht dann die Gerichte, deren Duft so angenehm herüberweht, in der Speisekarte wiederzufinden. Beim ersten Besuch ließ ich mich beraten. Zunächst also „La Soupe À L’Oignon comme aux Halles“, eine echte französische Zwiebelsuppe mit Weißbrot und Käseeinlage — dann ein Steak minute mit Pommes frites und Salat. Dazu ein Glas Pinard. Zum Abschluss ein Omelette Flambé au Rhum. „Und dann bitte noch ein Glas Kaffee.“

 

Bis das Essen aufgetragen wird, studiere ich wieder die Speisekarte, diesen Wegweiser durch die hohe Schule französischer Kochkunst: Frappierend ist das Studium der Preise. Ein Teller Zwiebelsuppe kostet 80 Pfennig, ein Schoppen Pinard 50 Pfennig, und für DM 3,10 bekommt man ein ganzes Menü mit Zwiebelsuppe oder Cannelloni, Steak minute und Kompott oder Käse. Dazu gibt es auch noch ein Glas Pinard. Das ist ja wie bei Aschinger. Auch das Weißbrot gibt es hier wie dort als kostenlose Zugabe. Und als dann nacheinander die bestellten Speisen kommen, kleine Portionen, vorzüglich zubereitet, den Magen nicht beschwerend und trotzdem sättigend, da schließe ich mich dem Urteil eines Besuchers an, der ins Gästebuch schrieb: „Hier wird große Kochkunst zu kleinen Preisen geboten.“

Ich bin immer wieder hierher gekommen, wenn es gerade passte, allein oder in Begleitung, mittags, nachmittags oder am Abend. Es bedarf keiner Vorbereitungen, um in die Paris Bar zu gehen. Und man wird immer gleich gut und aufmerksam bedient und im Übrigen auf höchst angenehme Weise in Ruhe gelassen. Als ich die Paris Bar vor etwa zwei Jahren kennen lernte, war ihr Gründer und Besitzer, M. Coupy aus Lyon, gerade gestorben. 

 

Aber man erzählte gern von dem stattlichen, humorvoll-originellen Mann, der die Seele des ganzen Unternehmens gewesen war. – Und später lernte ich seine Frau kennen, die vom Personal respektvoll »Madame« genannt wird und mit zarter und fester Hand die Paris Bar im Geiste des Verstorbenen weiterführt und weiterentwickelt. In einer ruhigen Stunde sitzt sie mir gegenüber, eine zierliche, mit unauffälliger Eleganz gekleidete Frau, deren gleichsam stählerne Zartheit und damenhaft-weibliche Ausstrahlung den Besucher unwillkürlich gefangen nehmen. Sie ist Dänin von Geburt und Schauspielerin von Beruf. Bewegend ist die Geschichte ihrer Liebe zu Jean Coupy, die von der Geschichte der Paris Bar nicht zu trennen ist.

In den letzten Kriegsjahren war sie am Funkhaus in der Masurenallee tätig, und sie blieb dort als eine der Letzten von der alten »Belegschaft« bis zum Juli 1945. Dann wurde auch sie von den russischen Besatzungsbehörden entlassen.
»Auf dem Heimweg nach Hermsdorf (ein Fußmarsch von zig Stunden) überlegte ich, was nun aus mir werden sollte. Da kam ich schließlich am neu eingerichteten französischen Offizierskasino in Hermsdorf vorbei. Ein wenig Französisch konnte ich — vielleicht konnte man mich brauchen.«
»Sind Sie Serviererin«, hieß es. »Nein, Schauspielerin.« — »Macht nichts, Sie schickt uns der Himmel. Heute Abend kommen hier 150 französische Flieger an, und wir haben nur zwei Bedienungen. Sie können gleich anfangen. Vier Tage Probezeit.«

Das war gegen 16 Uhr. Um 18 Uhr begann die junge Frau mit ihrem ungewohnten Dienst. Unter den 150 aus Afrika kommenden Fliegern, Widerstandskämpfern, denen man zum Dank für ihren Einsatz einen dreitägigen Berlin-Aufenthalt geschenkt hatte, befand sich der Funker Jean Coupy – und aus drei Tagen Berlin wurden für Jean Coupy fünfzehn lange Jahre einer überaus glücklichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.

Zunächst übernahm man ein Offizierskasino in Frohnau, und als im Jahre 1950 die Kasinos geschlossen wurden, pachtete M. Coupy ein Restaurant in der Kantstraße, um dort eine Bar im französischen Sinn einzurichten, wie sie in Paris die Straßen zu Hunderten säumen, die Besucher unaufdringlich und rasch bewirtend. Als ihm nach einem Jahr gekündigt wurde, weil der Besitzer des Restaurants das nunmehr flott gemachte Lokal selbst bewirtschaften wollte, ging M. Coupy kurz entschlossen daran, ein auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindliches Trümmergrundstück nach eigenen Angaben auszubauen – nunmehr »von Grund auf« echt französisch.

Als ich auf die Zweiteilung des Raumes hinweise, sagte Madame:
»Ja, sehen Sie, in Paris spielt sich doch das Leben zur Hälfte auf der Straße ab, auch in den Gaststätten. Die Markise dort oben soll andeuten, dass es hier eigentlich ins Freie gehen müsste. Drum sehen Sie auch den Eiffelturm und andere Pariser Motive an der Wand. Wir haben sie damals mit dem Projektionsapparat an die Wand geworfen, und der Maler, der nie in Paris gewesen war, hat sie danach gezeichnet.«

Aber nicht nur die Atmosphäre und das »Interieur« sollten echt französisch sein, viel mehr noch die Speisen und Getränke.
»Essen und Trinken ist in Frankreich eine Art Religion, und der Wein ist eine Weltanschauung«, war eine von M. Coupys tief gegründeten Meinungen, und er bezog seine Weine direkt von befreundeten französischen Weinbauern, überwachte die Küche und gab den Speisen persönlich die letzte Geschmacksnuance. Da sein Vater eine Wurstfabrik besaß, hatte er von klein auf mit Fleisch und Gewürzen zu tun gehabt. Und noch heute verraten tausend sichtbare Kleinigkeiten, im Gästebuch aufbewahrte Zeitungsartikel und Anekdoten seinen Esprit und eine gewisse ihm eigene charmante Dreistigkeit.

»MAN SPRICHT DEUTSCH« steht auf einem Fenster der Paris Bar, das »On parle français« deutscher Lokale liebenswürdig parodierend. — Köstlich reagierte M. Coupy Anno 1953 auf einen Artikel der in Ost-Berlin erscheinenden »Berliner Zeitung«. Dort wurde die Paris Bar in düsteren Farben als Treffpunkt internationaler Betrüger, Schieber, Waffen- und Rauschgifthändler abgemalt. Was tat M. Coupy? Er klebte den Artikel auf einen Karton und schrieb in absichtlich ungelenken Großbuchstaben darunter:

DRINGEND GESUCHT: 2 kg COCAIN, 1 ATOMWURST.

Dann hängte er das Ganze draußen vor der Eingangstür auf. Französisches Florett gegen plumpe, völlig haltlose Verdächtigungen. Das Gästebuch birgt manchen großen Namen – kein Wunder bei der Originalität des Lokals und bei »Madames« kollegialen Beziehungen zu Künstlerkreisen. Die Liste der berühmten Namen ist hier besonders lang: Maria Carol, Maurice Chevalier, Marcel Marceau, Jean Claude Pascal, Jean Effel und viele, viele andere.

Sie alle wissen die Paris Bar zu schätzen, die nun von Madame Coupy betreut wird, ohne dass sie an Atmosphäre und Güte verloren hätte – diese kleine Insel französischer Lebenskunst.

Juni 1961

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Paris Bar     Kantstrasse 152     10623 Berlin

 +49 30 313 80 52

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